Ich lebe in einer Großstadt, in einer Metropole. Das hat für meine Lebensweise, die unmittelbare Umgebung und meine Forderungen an diese, Folgen. Kurt Tucholskys erträumter Ort „vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“[1] war und bleibt Utopie. Die Stadt, in der ich seit 1982 lebe, verändert sich, soll sich verändern; möglichst zum Besseren. Das heißt aber nicht, dass der in der Metropole lebende Mensch alle verwaltungstechnischen und planerischen Entscheidungen die seine Umwelt verändern, hinnehmen muss; gerade dann nicht, wenn sie mit dem Argument „der Alternativlosigkeit“ oder „die Logik großstädtischen Leben erzwinge das …“ usw. vorgetragen und durchgesetzt werden sollen.
Stehen Veränderungen an, die in das unmittelbare Leben von Menschen eingreifen, hat der Gesetzgeber Möglichkeiten der Partizipation aller Interessierten und Betroffenen vorgesehen. Es gibt sogar ein vom Berliner Senat herausgegebenes Handbuch zur Partizipation[2], in dem die Ziele solcher Einflussnahme festgehalten sind. Es heißt dort immerhin, diese sei erwünscht. Unter anderem ist auf Seite 8 zu lesen, dass sich dadurch
– die Qualität der Planungsergebnisse erhöht,
– (man) am tatsächlichen Bedarf vorbeigehende Investitionen vermeidet,
– (sie) zum Interessenausgleich zwischen Verwaltung und Betroffenen oder zwischen verschiedenen Gruppen vor Ort beiträgt …
Das sind lediglich drei Anstriche aus einem über 330 Seiten starken Buch samt Handlungsempfehlungen. Ich bin überrascht. Ich stimme voll und ganz zu. Nach meinen (unseren) Erfahrungen komme ich nicht umhin zu vermuten, dass dieses Buch weder die Betroffenen noch die Entscheidungsträger zur Gänze gelesen haben. Auch ich gestehe es hiermit ein. Dennoch, nähme man es ernst und für bare Münze, könnte tatsächlich durch die Beteiligung und Einflussnahme verschiedener Bevölkerungsgruppen an stadtplanerischen Entwürfen eine größere Akzeptanz der später zu treffenden Entscheidung eine der Folgen sein. Eigentlich gut so. Da stehen langwierige Prozesse ins Haus, sicher. Vorlagen müssen erstellt, Einsichten möglich gemacht, offene Versammlungen und Diskussionen einberaumt und ausgehalten, Vorlagen unter Umständen verändert und überarbeitet werden usw. usf.
Doch wie geht das tatsächlich vonstatten? Auf einer häufig nicht mehr nachzuvollziehenden politischen Ebene wird eine Entscheidung gefällt. Diese führt, manchmal erst nach Jahren, zu einem Auftrag an Planungsbüros. Das erste Problem ist nun der Ausgangspunkt der Planenden, der sie in so einen Prozess nicht ohne klare Vorstellungen ziehen lässt. Zumeist ohne jemals die Betroffenen befragt zu haben, geben sie ein Ziel vor. Ein öffentliches Gespräch beginnt erst, als wichtige Entscheidungen längst getroffen sind. Ein Zeitplan der Ausführung wird präsentiert. Der stellt sich als sehr konkret heraus. Damit wird Druck aufgebaut und unverzüglich herausgestellt, wer an der möglicherweise nicht termingerechten Realisierung schuld sei – natürlich die Betroffenen (für die man ja im Übrigen vorgibt zu handeln). Hier liegt bereits ein strukturell vorgegebenes Missverständnis vor, das die Planerinnen und Planer ganz selbstverständlich über die Adressaten hinweg handeln lässt und nicht mit ihnen. Damit wird von Anfang an das Miteinander, eine gemeinsame Suche nach der besten Lösung usw., problematisiert. Alles was jetzt folgt, stört also ihre Vorstellungen, ihre Arbeit, ihre Umsetzung. Hieraus erwächst die tiefsitzende Ablehnung all der anstehenden, durch Anwohnerinnen und Anwohner sowie Interessierte einzubringenden partizipatorischen Prozesse. Es nervt sie.
Die Argumente dieser Form herrschaftlichen Ablehnung gegenüber dem Vorgebrachten der Betroffenen fußen auf verschiedenen, aber sich wiederholenden Mustern:
– auf Seiten der Einwendenden fehle das Fachwissen, das tiefere Verständnis,
– die Einwände seien schlicht nur partikulare Interessen, die den größeren Zweck und Zusammenhang verfehlen,
– die umzusetzende Maßnahme brächte enorme Vorteile, die die vorgebrachten Einbußen vorhandener Lebensqualität überwiege,
– man lebe schließlich in einer Großstadt, die Verdichtung, Geschwindigkeit, Lärm logischerweise zur Folge habe; es sei also hinzunehmen
– usw. usf.
Niemals wird man zu hören bekommen, dass Planer und Planerinnen eben nun mal planen. Der Stuhl, auf dem sie sitzen und auf dem sie gut bezahlt werden, rechtfertigt sich erst durch ihre Aufgabe, das Planen selbst. Sie wollen und müssen bauen. Sonst sind sie überflüssig. Zweifel am Auftrag und/oder am Auftraggeber sind obsolet, denn von dort kommt das Geld. Der Selbsterhalt zwingt sie in eine Logik, die unter Umständen den Betroffenen, manchmal kann man ruhig von Opfern sprechen, entgegensteht. Dass sie dabei von jenen auch durch deren Steuern lediglich alimentiert werden, scheint nicht ins Bewusstsein zu dringen, bleibt also folgenlos.
Problematisch wird es nun, wenn die vom Gesetzgeber erwünschten Partizipatoren die erwogenen obrigkeitlichen Maßnahmen gar nicht ablehnen, sondern alternative Varianten vorschlagen und zur Diskussion stellen. Jetzt kann von Seiten der Entscheidenden dies mit dem Argument der schwierigen Realisierbarkeit abgetan werden; gerne werden auch hohe, zusätzliche Kosten ablehnend ins Feld geführt. Was aber, wenn vorliegende Alternativen sogar billiger sind, und zwar sehr viel billiger?
Da bereits Öffentlichkeit durch alle Beteiligten und auf allen Seiten hergestellt worden ist, bleibt nichts weiter übrig, als öffentlich die Varianten zu diskutieren und zu prüfen. Dabei wird folgender Trick angewandt: von Seiten der Planenden (und zwar nur durch sie) werden Probleme benannt und ein Fragenkatalog aufgestellt, der für alle Varianten gleichermaßen zu prüfen ist. Das soll Vergleichbarkeit schaffen. Punkte sollen vergeben werden. Eine zu errechnende Zahl soll Auskunft über die beste aller Varianten geben. Man sei da ganz vorurteilsfrei und objektiv.
Wer prüft? Genau: die Planer und Planerinnen selbst (oder eine Tochtergesellschaft oder ähnliches). Man gibt sich ansonsten arglos. Das Ergebnis fällt auf diese Weise, wie zu erwarten, für die Vorzugsvariante der Planenden aus.
Vor der öffentlichen Vorstellung dieses Ergebnisses wird dann entweder versäumt, den bürgerschaftlich Engagierten die erzielten Resultate rechtzeitig zur Verfügung zu stellen, damit sie sich sachlich vorbereiten können oder es gab unerwartete technische Probleme bei der Zustellung der Daten, Tabellen, Bilder. Im Nachhinein tut man überrascht. Es heißt dann, dass wohl Übermittlungsfehler aufgetreten seien: zerpixelte, nicht-lesbare Tabellen, viel zu klein aufgelöste Bilder, nicht lesbare PDFs, falsche E-Mail-Adressen u. ä. m. Man könne sich gar nicht vorstellen, wie das passiert sei …
Die dann folgende öffentliche Veranstaltung selbst darf man sich nicht als laute und disziplinlose Konfrontation vorstellen. Von Seiten des Senats wird eine Person vorgeschickt, die mit jovialem Auftritt und dem Äußeren des älteren, gemütlichen, geduldigen Zuhörers geübt genug ist, verständnisvoll auf jeden Widerspruch zu reagieren. Um zu erkennen, dass der Senatsvertreter von Anfang an nichts anderes im Sinn hatte, als knallhart das eigene Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, brauchte es Distanz, die nicht unbedingt, noch dazu emotionalisiert, wie viele in solchen Momenten sind, vorhanden ist. Interessanterweise sitzen im Publikum dann auch von Senatsseite mitgebrachte Fachleute, die zu dem einen oder anderen bislang in der Debatte nicht lösbaren technischen Problem zu sagen wissen (ganz aktuell natürlich), dass diese nun durchinnovative Entwicklungen gelöst seien. Erfreut nimmt man das zur Kenntnis und geht selbstverständlich davon aus, dass diese Neuerungen Eingang in die Planungen fänden und auch umgesetzt würden. Das ist naiv. Es wurde doch nur behauptet, dass es eine Lösung gäbe. Ernüchtert stellt man erst nach Verlassen des Ortes fest, dass man eingewickelt wurde und die Veranstaltung nichts anderem als einer Verkündung des immer schon Geplanten diente.
Was ist das aber, wenn das planerische Handeln lediglich die Folge einer größeren politischen Entscheidung war, die nie kommuniziert, gar mit Sperrklauseln belegt und damit den Betroffenen vorenthalten wurde? Macht sich dennoch eine Ahnung davon breit und bittet man öffentlich diesbezüglich um Aufklärung, wird vorgeblich die Frage nicht verstanden. Trägt man öffentlich eine Vermutung vor, wird sie brüsk und als Phantasiegespinst zurückgewiesen. Es ist bitter festzustellen, dass unter solchen Voraussetzungen jegliche Partizipation sinnlos war und ist.
So wird das gemacht; und so geschieht es! Ein ums andere Mal.
Damit sind wir wieder am Anfang. Mit gönnerhafter Geste wird dann hier und da noch ein Detail verändert: eine Sitzbank mehr, eine Baumfällung weniger, ein Parkplatz erhalten. Jetzt ist aber doch gut, nicht wahr?! Der Plan wird festgestellt und umgesetzt.
Man gibt sich im Weiteren völlig ahnungslos, woher wohl die Ablehnung, teilweise auch Wut aus Teilen der betroffenen Bevölkerung nur komme. Für diese, mit jahrelangem Engagement, Diskussionsrunden, Aufsetzen von Schriftstücken, Zeichnungen und Skizzen, Webseiten usw. beschäftigt, wofür Freizeit geopfert und Beiträge aus eigener Tasche geleistet wurden, war es ein Laufen ins Leere. Das war den Entscheidern von vornherein klar. Das Engagement wurde nie als solches wahrgenommen; es hat nur gestört. Vielleicht wurden die Beteiligten sogar belächelt. Aber hieß es nicht, Partizipation sei erwünscht? War also und ist diese ganze Form sogenannter Einflussnahme nur Gesellschaftsspiel mit vorgeprägtem Ausgang? Beschäftigungstherapie? Eine Beruhigungspille? Die hat, das sollten allerdings alle wissen, Nebenwirkungen. Überdruss, Widerwille, Abneigung sind Folgen, mit denen die Gesellschaft dann wird leben müssen. Kein Gehör finden, ist einer der Ausgangspunkte, die zum Rückzug aus jeglichen partizipatorischen Prozessen, die politischen eingeschlossen, folgen. Da die Planungsbehörden nur den unmittelbar greifbaren Teil der politisch Handelnden darstellen, ist der Schritt nicht weit, auch die Politikerinnen und Politiker und ihre Parteien selbst als nicht relevant anzusehen. Der Vorstellung, dass diese eh machen was sie wollen oder dass sie den Bezug zur Realität verloren hätten, begegnet man dann häufiger. Mag sein, dass einige auf die Idee kommen, randständige politische Gruppen oder gar einen Systemwechsel als vermeintliche Problemlöser anzusehen.
Es sollte also niemanden wundern, dass sich die so erfahrenen Frustrationen Wege suchen. Wohin sie führen, haben die Politikerinnen und Politiker in der Hand. Dazu müssen sie die Ursachen dieser Frustrationen erkennen wollen und schließlich daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Demokratie muss man eben wagen und nicht nur so tun.
Berlin im Mai 2021
Nachsatz:
Ein über zehn Jahre währendes Engagement als Anwohner zu einem konkreten Berliner Bauvorhaben führte zu obigem Text. Die Form der Verallgemeinerung sehe man mir nach, ist allerdings Absicht. Der Text ist immer noch mit einem Funken Hoffnung geschrieben. Sonst wäre er sinnlos.
Uwe Warnke lebt in Berlin
Schriftsteller, Verleger, Kurator
Stiftungsratsvorsitzender der Kulturstiftung Haus Europa
Mitglied im PEN-Deutschland
[1] aus: Kurt Tucholsky, Das Ideal, 1927
[2] Handbuch zur Partizipation, Berlin, Juni 2011, 2. Auflage Februar 2012 https://www.stadtentwicklung.berlin.de/soziale_stadt/partizipation/download/Handbuch_Partizipation.pdf