Als ich vor einigen Tagen das erste Mal in diesen Raum mit seiner Kunst kam, war ich auf seltsame Weise angefasst. Ich war von einer Stimmung fasziniert, in der alles zu passen schien. Ich begriff erst zu Hause, zurückgekehrt an den Schreibtisch, dass es die formale Geschlossenheit war, die Einheit und Dichte, die mich begeisterte und die mich wieder mal überzeugt hatte.
Wenn uns in der Begegnung mit der Kunst so etwas passiert, treffen wir keine Entscheidungen nach gründlichen Analysen, Lektüren, Seminaren, Rücksprachen, langem Abwegen, einem Für und Wider etc. -, sondern unser Prinzip Wahrnehmung funktioniert dabei spielend. Das sind Augenblicke, Erfahrungsmuster, Vergleiche, ein Scannen und Ordnen und bestenfalls Fragen zulassen. Und das passiert in Windeseile, in Femtosekunden, würde Frank Siewert vielleicht sagen. Wir denken da vordergründig nicht nach und könnten doch, würden wir umgehend gefragt, sofort einiges assoziativ herunterspulen, erzählen. Das haben wir drauf. Und nicht etwa, weil wir das alles schon kennten. Würde sich dies nämlich nur in unserem Erfahrungshorizont abbilden, kämen wir über das Wort Tradition nicht hinaus. Also unsere Offenheit, die zulässt, dass wir verstört werden, irritiert werden usw. ohne uns zu verschließen, ist das, was uns mit dem Künstler verbindet, was die Spannung hält, was uns einander interessiert. Empathie und Kontemplation, meine Damen und Herren, diese Einfühlung und sich immer wieder bestätigen wie gut oder schlecht, wie richtig oder falsch alles ist und vor allem wie einig wir uns dabei doch sind, ist zwar ein tragfähiges Konzept in Ruhe, hilfreich im Moment des tiefen Durchatmens (Seufzen ist eine Vollatmung), eines das auch dem Gräbenziehen und der eingeübten Abgrenzung z.B. gegen all das Neue, Fremde, vermeintlich Unruhig-Machende dient. Es ist aber keines für die Bewegung. Nichts, was weiterführt. Dieser Unterschied ist es, dem wir dankbar sein sollten; dankbar für eine neue Erfahrung. Wann machen wir die denn noch? Wie wir sehen, stehen uns also nicht Fremdheiten im Weg, sondern wir uns selbst. Wohl dem der fühlen und denken will.
Wir stehen hier vor Buchexistenzen, die im Chor der Bücher, der Buchproduktionen und des Buchmarktes überhaupt keine Rolle spielen. Fragestellungen, wie sie die Papier- und Druckindustrie gegenüber Verlagen gern aufwirft, z.B. die Beschaffenheit des Buchdeckels und der Inhaltsseiten aus demselben Papier zu wählen, um beim später ganz sicher folgenden Recycling verkaufter oder nichtverkaufter, gelesener oder nichtgelesener Bücher Arbeitsschritte der notwendigen Trennung zu sparen, tauchen hier nicht auf. Und wir sind froh, dass das so ist. Genau das schafft ja auch Freiheiten. Buchkunst, um die sich im Übrigen bestenfalls schon genau so lange bemüht wird wie es eben Bücher gibt, d.h. schon lange vor dem Buchdruck, ist hier von Interesse. Schon in der Phase der Handschrift und mehr noch mit Einführung des Buchdrucks entstehen umgehend Traditionen. Buchkunst heute, wenn sie dieser Tradition entkommen ist, kennt einerseits deren Gesetze und formalen Bedingungen, die eben Buch bedeuten und ist andererseits wach genug, diese in Teilen immer wieder über Bord zu werfen. Genau soweit vielleicht, dass es das eigene Boot nicht kentern lässt. Aber warum nicht auch dies? Dieses Zu-weit-gegangen-Sein ist doch eine wunderbare Erkenntnis, die außerdem Gründe hat und die neugierig macht auf das Danach. Wenn es das dann hoffentlich noch gibt.
Auf die Frage, warum immer wieder das Buch, antwortet Frank Siewert ohne Umschweife, dass er schließlich mit dem Buch groß geworden und dass das Buch eben auch ein haptisches Erlebnis sei. Man kann es in die Hand und auch direkt vor die Augen nehmen. Man kann es sehen, fühlen, riechen. Etwa 100 eigene Bücher und Beteiligungen an diesen sind es, zu denen sich der Künstler immer wieder hat hinreißen lassen. Texte sind dabei ein Einstieg in die Auseinandersetzung. Es sind solche unter anderen von Gert Neumann, Sarah Kirsch, Ina Strelow, Eberhard Häfner, Richard Anders, Peter Wawerzinek oder Vitezlav Nezval. Hinweise auf Texte nimmt er gern und dankbar von Kollegen auf. Zeitgenossenschaft scheint dabei eine Rolle zu spielen. Diese Texte sind das kleine Fenster, der Ansatz. Reibung ist ausdrücklich erwünscht. Zitat: „Sich dem eigenen Denken ausliefern.“ Dieses Begegnen-Wollen, etwas, was auch uns hierher geführt hat, fand für den Künstler schon ganz am Anfang in der Konfrontation mit der Literatur statt. Die Arbeit am Text ist dabei atmosphärisches Reagieren, kein Spiegeln, kein Illustrieren. Stimmungen einfangen und sie vor der eigenen Erfahrungswelt prüfen. Dabei ist auch für den Künstler nicht klar, was entsteht. Die Verbindung vom Kopf bis zur Hand ist lang. Was auf diesem Weg und in der dabei notwendigen Zeit passiert bis der Gedanke Bewegung wird und eine noch so kleine Spur auf dem Papier oder Stein hinterlässt, ist völlig unklar. Hält sie der Prüfung stand, setzt ein Erkenntnisgewinn auch für Siewert erst mit Verzögerung, bei später erneut stattfindender Wiederbegegnung, ein.
„Sehen ist Käfig“ lese ich da als Titel eines unikaten Malerbuches das ganz auf Text verzichtet. Sicher gilt dies auch als Ansporn, den eigenen Mustern zu entkommen. Siewert ist sich der bestätigenden Einfühlung als Gefahr bewusst, wenn er 1998 schreibt: „Erinnerungen haben romantischen Staub angesetzt.“
Ein Sich-Fügen in die Gesetze und Traditionen des Buches, die Geschlossenheit zwischen den Deckeln, einem Anfang und einem Ende, dem gegenüber von Seiten, der Serie und Variation von Aufeinanderfolgendem in Text und Bild, der Formatbegrenzung, dem Text der alles zusammen zu halten scheint -, das alles ist für Siewert nicht vordergründig von Interesse. Die Strenge ist ihm allerdings Motivation. „Es ist eher der Nutzen der sich daraus ergebenden Möglichkeiten“, wie er auch sagt.
Dass er dabei Freunde im Geiste fand und auf Gegenliebe stieß wundert dann schon nicht mehr. Verleger luden ihn ein und Editionen standen ihm offen. Das begann in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren mit der Herzattacke und Edition Maldoror in Berlin, ging über Keil in Brandenburg zu Entwerter/Oder, Edition Dschamp, miniture obscure, savod progress (alle Berlin) zum Verlag Peter Ludewig in München. Der Karo Verlag in Basel wie auch inventory in London luden ihn ein. Bei den Schraubenblättern, Berlin, entsteht immer wieder etwas wie auch im Arco Verlag, Wuppertal/Wien. Aktuell lieferte er Arbeiten für quartett in Halle.
Er geht dabei spielerisch mit den ihm zur Verfügung stehenden Drucktechniken um. Es begann mit Kopien von Zeichnungen und wechselte schnell zu Holzschnitten. Das wurde von ihm im Jahr 2000 aufgegeben. Sogar Fotografien, Handabzüge um genau zu sein, tauchten auf. Die Lithografie steht ihm heute genauso zur Verfügung wie die Radierung, der Siebdruck. Die letzten drei genannten Techniken sind dem Prozess des Zeichnens nahe. Da findet sich schließlich auch das Original, die Zeichnung, wieder ein, wenn der Künstler auf dem Humus des von ihm bereits Gestalteten weiter arbeitet und Gedrucktes übermalt. Die Farbigkeit spielt dabei, wie nicht zu übersehen ist, in Pastelltönen und im Gedeckten. Erdtöne herrschen vor. Die Form, die sich so durchsetzt, hat etwas Zeichenhaftes. In der Reduktion des Figürlichen hat sie aber immer noch ihre Körperlichkeit. Reduziert wird um der Einfachheit Willen. Hier geht es ruhig, sensibel zu; in Klarheit, wenn Sie so wollen. Es ist nicht das Spektakel, nicht der Rausch, nicht das Menetekel. Siewert war immer schon, und so ist es auch hier, auf anderes aus.
Uwe Warnke
gehalten am 29.09.2011 im projektraum: alte feuerwache, Berlin-Friedrichshain