„Immer so als ob!“ Ein großes Bekenntnis zur Form. Gefäß – e r w e i t e r u n g e n
Gemeinhin spricht man von Gefäßerweiterungen, wenn durch Ausschüttung körpereigener Hormone die Durchblutung angeregt wird. Voraussetzung dafür ist ein gegebener Anlass. Das Ergebnis, zum Beispiel: wir erröten. Ein Affekt, dessen Sichtbarkeit unter Umständen uns oder überhaupt stört, aus medizinischer Sicht jedoch durchaus wünschenswert, zumindest positiv bewertet wird. Bewegung ist eben alles … Tritt allerdings, und dies ist eine der Gefahren der Gefäßerweiterung, eine gewisse Wandschwäche auf, so dass die Flüssigkeit führenden Gefäße diese nicht mehr halten können und platzen, ist das Überleben eine Frage des schnellen Zugriffs, der zur Verfügung stehenden Technologie und damit der Ideen.
Zu Besuch bei Antje Scharfe. Die Werkstatt ist eine Werkstatt. Der erste Eindruck: alles befindet sich im Werden; Oder sagen wir in einem Zwischenstadium. Das Sympathische: nichts ist weggestellt (woher will ich das wissen?) und nichts ist zugehängt oder abgedeckt. Staubfrei geht es nicht zu, kann es hier nicht zugehen. Alles liegt auf der Hand, vor den Augen. Das Gespräch dreht sich um das was sich denken lässt und hier zur Form wird. Die Regale sind voll mit sinnlichen Versuchsanordnungen. Was sich jetzt noch verschiebt, verbiegt, verfärbt, entblättert und kombiniert, ist sinnliches Reagieren auf neue Verhältnisse, ist ein Abklopfen und Gestalten neuer Erfahrungen.
„Ich bin etwas verblüfft, dass sich Kollegen immer wieder von den Resultaten meiner Arbeit überrascht zeigen.“ Ein Satz von Antje Scharfe, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass doch alles nahe liege, dass doch die Dinge klar seien, oder? Keinen Hehl macht sie aus dem sich so einstellenden Missmut, wenn das Mitdenken ausbleibt. Und genau so selbstverständlich entwickelt sie eine Form aus der nächsten, steht eine Folgerichtigkeit angeschrieben, die mich beeindruckt, gerade wegen ihrer Schlüssigkeit.
Hier wird gedacht, nachgedacht – und das Denken geht der Handarbeit voraus, ist fester Bestandteil ihres Werks. Neben unserer sinnlichen Wahrnehmung wird auch ein gedankliches Nachvollziehen vom Betrachter erwartet. Das ist der Unterschied zum Angebot an Kontemplativen.
Eine Frage bringt mich auf das Wort „Parodie“. „Nein“, kontert Frau Scharfe, „ich liebe die Keramik, ich liebe Gefäße. Das was ich tue, ist ein Kommentar. Immer so als ob.“ Die Titel der einzelnen Werkgruppen bieten uns einen Schlüssel, erleichtern uns ihre Lesbarkeit: „Funktionelle Gefäße“, „Still-leben-Gefäße“, „Nachdenken über Gefäße“, „Küchen“, „Borde“, „Taschentuchbilder“ usw.
Kommentare kommen ohne Erleben nicht aus, setzen Souveränität und Überblick voraus und besitzen die Freiheit des Zitats. Genau so! Sie sind actio und reactio in einem. Das benutzen desselben Materials ist das Zitieren einer Quelle.
Immerhin oder immer noch: alles was entsteht greift in den Raum. Nichts wird auf die Fläche zurückgeworfen. Selbst diese ist, da wo sie zweidimensional scheint, nicht in diesen Ausdehnungen zu halten. Beim näheren Hinsehen ist auch das ja nicht verwunderlich. Hat das nicht mit der eigenen Geschichte, mit der Geschichte des Materials zu tun? Stand nicht der Körper im Mittelpunkt der Keramik und zwar völlig unabhängig von der eingenommenen Distanz zur Tradition? Und, Moment, ist das nicht heute auch so?! Hier hilft uns auch das Wörtchen „noch“ nicht weiter. Und schließlich: Von welcher Tradition ist denn da die Rede?
Es gibt sicher eben soviel gute Gründe am Material festzuhalten, wie es Argumente gäbe dagegen. Denken und Arbeit bieten den Entwurf oder Gegenentwurf, ganz wie Sie wollen. Antje Scharfe tritt immer an, die Grenzen ihres Tuns auszuloten, der Wirksamkeit des eigenen Wollens nicht nur die Spur zu ziehen, sondern den Boden zu bereiten und auch immer wieder (und noch) aufzubereiten. Anmerkung: auch ins Bodenlose, warum denn nicht?! Und, bitte, Halt gemacht wird erst, wenn die freie Entscheidung durch die Grenzen des Materials infrage gestellt ist.
Uwe Warnke, Berlin 2003
Der Text ist nicht zu verstehen als Argumentationshilfe für einen ohnehin längst verlorenen und nur vermeintlichen Kampf, wie dem zwischen Tradition und Innovation, den Platzanweisern und Platzhaltern der Keramikzunft, der, wenn er denn geführt wurde, ein unsinniger war. Denn es gab gar nichts zu kämpfen. Zumindest nicht an dieser Stelle, nicht mit der Tradition, oder besser mit jenen Vertretern, die diese und nur diese als Argument zitieren und sie als hochgehaltene Fahne schwingen, dabei so vieles verkennen und den Blick aus dem Rückspiegel nicht abzuwenden in der Lage sind (zumal der Gegenverkehr so blendet).
Der Text ist ein Text. Und Erfolg ist ein Missverständnis. „Man hat schnelle Erfolge und braucht Jahre, um es (das Material, Anmerkung U.W.) zu überlisten.“(A .Scharfe)
Selbst die eigenen Erwartungen, bezogen auf Resonanz, Förderung, Austausch und Markt, verschob man auf und in vorhandene Strukturen – bis diese sich als unwirksam und unbrauchbar erwiesen. Aus diesem Sumpf wird sich nun, wie es heißt, am eigenen Zopf herausgezogen. Das ist mehr, als lediglich am Henkel und bedeutet viel, wenn man bedenkt, dass es anders nicht gelingt, dass es nur so gehen kann und deutlich Selbstbewusstsein schafft.
Uwe Warnke