In den 1970er und 80er Jahren schien bei einem Blick von außen die Kunstszene Ostberlins eine große, kaum überschaubare zu sein. Das war sie mitnichten. Es kam wohl zum einen auf den Standpunkt und zum anderen darauf an, was man unter der „Kunstszene“ verstand.
Ausstellungseröffnungen waren vielfach genutzte Gelegenheiten in ihr einzutauchen. Dabei waren es eher die kleinen Galerien, Jugendclubs und Kulturhäuser, die durch ihre Ausstellungstätigkeiten junge Künstlerinnen/Künstler und Dichterinnen/Dichter anzogen. Hier konnte ausprobiert und diskutiert werden. Das dabei auch ästhetische Grenzen gesprengt wurden, war nicht immer gern gesehen, aber möglich. Kunst an den Wänden, Reden, Musik und das Buffet stellten nicht selten den Beginn langer Abende, gelegentlich auch Nächte dar. So muss ich Ende der 1980er Jahre Helmut Zielke (1938 – März 2013) kennengelernt haben. Eigentlich habe ich ihn immer in Begleitung von Ingrid Behm (1942 – Februar 2013) wahrgenommen, die ich kannte und als Fotografin schätzte. Helmut agierte bei solchen Begegnungen ausgesprochen zurückhaltend. Er drängte sich nie ins Rampenlicht. Er deutete an, ließ Gesagtes sacken und hoffte auf eine Reaktion. Wenn nicht, dann eben nicht.
Etwa so muss es zu einem ersten Besuch von mir bei ihm in der Pankower Binzstraße gekommen sein. In einem Mietshaus, im obersten Stockwerk, befand sich seine Wohnung, die gleichzeitig Atelier war. Er zeigte mir Zeichnungen und Grafiken, ausgesprochen kleinteilige Gespinste, die aus vielen feinen, eng nebeneinander koexistierenden Linien bestanden. So sich die Zeichnungen, die wohl älteren Datums waren, noch auf dem Feld des Figürlichen bewegten, waren es surreale Geschehnisse, die sich einer eindeutigen Zuordnung entzogen. Aktuellere Arbeiten erschienen als abstrakte, ungegenständliche Lineaturen, Knäuel, Knoten, Gewirre, die er auf seine Weise zu ordnen wusste.
Ich erfuhr, dass er in seiner Jugend den Beruf des Kartografen erlernt hatte. Das sah man der Feinheit und Akkurates dieser Zeichnungen und Radierungen an. Während die Kartografen des 19 Jhs. noch druckreif seitenverkehrt in Kupfer gestochen hatten, gehörte er jener Generation an, die gelernt hatte jeden Morgen Chinatusche[1] anzureiben und mit der Feder, die er noch auf einem Arkansas Ölstein anzuschleifen wusste, zu zeichnen. Bei Helmut waren es tiefschwarze Linien, in 0,1 mm Stärke, dicht an dicht, die nicht ausbrachen und nicht ineinanderliefen.
Dieses Können mit der Freiheit der Kunst zu verbinden, muss in der Umsetzung einer Meditation gleichgekommen sein. Ruhe, Geduld – dem Entstehen Zeit geben –, mit der Sicherheit der schwarzen Linie.
Es ging recht schnell darum, wie ein Beitrag von ihm für die von mir illegal in kleiner Auflage herausgegebene originalgrafische Küntlerzeitschrift Entwerter/Oder aussehen könnte. Ohne Kopierläden, Kopierer, Computer und Drucker, die uns damals nicht zur Verfügung standen, ließ sich das nicht reproduzieren. Davon Radierungen anzufertigen, was er ja auch immer wieder tat, und diese dann bei dem Drucker seines Vertrauens Dieter Bela in der für mich nötigen Anzahl von 25 Stück drucken zu lassen, war aufwändig und auch teuer. Fürs erste schlossen wir das aus. Dann zeigte er mir schwarz/weiß Fotografien. Hier offenbarte sich mir eine humorvolle Welt. Da ritten Zinnfiguren über Spagetti oder kämpften gegen Erdbeeren; Hühnereier türmten sich mit Gemüsen zu Ungetümen, Haushaltsgegenständen wurden neue Funktionen zugewiesen u.ä.m. Für mich ebenso interessant waren Fotografien, die als Zeugnisse einer Performance entstanden waren. Er hatte ein eigenes, abstraktes Ölbild verbrannt und den Prozess dokumentiert, nicht ohne ein Bild von sich und dem unverletzten Bild voranzustellen. Mit den 6 x 6 Negativen ließen sich hervorragende Fotoabzüge herstellen. Helmut Zielke klebte schließlich in 25-facher Auflage drei signierte Fotos, die er aus der Serie ausgewählt hatte, zu einem seitlich aufklappbaren Leporello zusammen und fixierte das unterste jeweils auf eine A4-Seite. Die erste Veröffentlichung von Arbeiten Helmut Zielkes in Entwerter/Oder erschien im Januar 1989 in der Ausgabe Nr. 33.
Offensichtlich hatte er an der Zusammenarbeit Gefallen gefunden, so dass er für die folgende Ausgabe Nr. 34, zum Thema Musik, eine Radierung anbot, die ich im April 1989 mit den anderen Arbeiten, Texten, Collagen, Noten, Zeichnungen usw. herausgeben konnte. Für die Ausgabe im Oktober desselben Jahres folgte ein vierteiliges, aus Fotografien bestehendes Leporello, das Begegnungen zwischen einer Modellpuppe mit Bockwürsten, einer Zucchini, und einem Gartentisch festhielt.
Bei einer dieser Nachmittage schenkte er mir zum Abschied ein Exemplar der von Dieter Rot herausgegebenen Buchreihe Zeitschrift für alles, Ausgabe 10A, in der zahlreiche Fotografien aus seiner Bildverbrennungsserie zu sehen waren.
Mit der Bemerkung, er könne mich, wenn ich Sinn für schrägen Humor hätte, was er mir wohl unterstellen zu können glaubte, seinem Bruder Ottfried vorstellen, wurde auch dieser Kontakt hergestellt. Dieser war ein begnadeter Zeichner, auch Karikaturist. Für den großen Erfolg, den Ottfried Zielke in den folgenden Jahrzehnten in der Buchkunstszene hatte, ist Helmut Zielke mit verantwortlich und zu danken.
Wir trafen uns bei allen möglichen Gelegenheiten immer wieder, spazierten zufällig gemeinsam durchs Berliner Umland, sahen uns auf Jubiläen von Künstlerkollegen und weiterhin bei Ausstellungseröffnungen.
Eine letzte Veröffentlichung aus seiner Hand in Entwerter/Oder findet sich posthum in der Ausgabe Nr. 98 vom März 2014. Bereits 2005 hatte er eine Folge von feinlinigen Zeichnungen zusammengestellt, die er auf fünf Blätter hintereinander anordnete und signierte. Zusammen mit Fotografien seiner Lebensgefährtin Ingrid Behm band ich sie wie einen Nachruf in die Ausgabe ein. Eine Zeichnung seines Bruders, „Denkmal für I.B. + H.Z.“, wurden den Arbeiten der beiden vorangestellt. Hier findet sich auch die launige Bemerkung seines Bruders: anonyme beisetzung. keine trauergemeinde, keine reden, keine bilder.
Uwe Warnke, Berlin 2021
[1] Diese Tusche kam aus China und wurde in Stangen geliefert. Angerieben und mit Wasser verdünnt ergab sie eine schwarze Tusche, die lichtecht und kopierfähig war.